Der Riss

Im Schlafzimmervorhang ist ein Riss aufgetaucht. Quer. Etwa eine Handlänge. Von direkt hinter dem umgenähten Rand bis etwa zur Mitte der Stoffbahn. Mir ist vollkommen schleierhaft, warum es diesen Riss gibt. Es kann doch nicht so schwer sein, einen Vorhang beiseite zu schieben, bevor man das Fenster aufmacht, denke ich mir. Natürlich hat meine Frau den Vorhang zerrissen. Ich mache so etwas nicht. Das wird sie auch sagen, also ist der Riss entstanden. Jetzt hängt der Vorhang ab dieser Risskante wie herunter, auch wenn der Stoff schon überhalb des Risses einfach der Schwerkraft folgt und auch unterhalb nur noch seinen Weg nach unten sucht. Aber der Riss lässt die Krümmung des Vorhangs nun gegenläufig sein. Wie ein Negativbild. Und am Fenster hat sich ein Eindruck von Lottertum und Sieche eingestellt, wo vorher ein schöner, halbtransparenter Vorhang herunter lief. Meine Frau und ich werden heute deshalb abends streiten, ich werde mir jede Nacht, wenn ich am Vorhang vorbei zu meinem Bett gehe, alt vorkommen. Wir werden den Anfang einer heruntergekommenen Wohnung genau festmachen können. Der Riss am Vorhang.

Austauschen wäre eine Möglichkeit, den gleichen Stoff nachkaufen. Zwecklos allerdings, wir werden immer wissen, wo dieser Riss vorher war und wie das Zimmer dadurch aussah. Wir müssten das Zimmer wechseln, um das vergessen zu können. Die Wohnung, die Stadt. Das Leben. Denn der Riss geht durch unser Leben, der Vorhang ist nur das Abbild davon.